Essener Jugendanthologie 2024: “Zwischen meinen Stühlen”

Pädagogische Handreichung

Handreichungen mit pädagogischen Zusatzinformationen

Ein Buchprojekt in Kooperation zwischen dem

Kulturzentrum Grend Essen und dem Geest-Verlag Visbek

Sehr geehrte Damen und Herren,

nach dem großen Erfolg der letzten Essener Anthologie mit dem Titel „Was mich in diesen Zeiten voranbringt“ wollen wir jetzt ein neues Buchprojekt für Kinder und Jugendliche zwischen zehn und zwanzig Jahren aus dem Ruhrgebiet starten. Es ist bereits das zwanzigste, ein Jubiläum also. Diesmal geht es um eine Situation, die wir wohl alle kennen, nämlich, dass man zwischen den Stühlen sitzt. Was da wohl alles passiert? Und wieder wollen wir mit Ihnen gemeinsam etwas Besonderes schaffen. Sie, sehr verehrte Damen und Herren, haben Kontakt zu jungen Menschen. Deshalb bitten wir Sie um Ihre Unterstützung und um Ihr Engagement!

Das neue Schreibprojekt

„Zwischen meinen Stühlen“ heißt das neue Thema. Es greift eine deutsche Redewendung auf, die deutlich macht, dass man zwei Standpunkte, die unvereinbar sind, nicht gleichzeitig einnehmen kann. Man ist unsicher, vielleicht sogar ratlos, weil man nicht weiß, was richtig ist und wie es weitergeht. Dieses Thema steht in enger Verbindung zum vorherigen, setzte sich dieses doch damit auseinander, was einem Orientierung und Halt gibt. Jetzt aber tritt die heutige Situation in den Mittelpunkt, in der viele Jugendliche ganz offensichtlich leben. Und die ist eher gekennzeichnet durch ein Dazwischenstehen, ein dazwischen Sitzen. Es ist das Dilemma, dass es zu Dingen, die einem elementar wichtig sind, Meinungen gibt, die einander diametral gegenüberstehen, sodass man nicht ohne weiteres entscheiden kann, was richtig und falsch ist. Gerade junge Menschen haben da Schwierigkeiten, weil sie altersbedingt oft hohe moralische Ansprüche haben, diese aber in der Realität, in der sie leben, nicht einfach so umsetzen können. Das schmerzt und verunsichert viele von ihnen, ja, es macht sie im schlimmsten Fall sogar entscheidungsunfähig.  Sie verzichten darauf, sich einzubringen, und ziehen sich womöglich auch zurück. Andere wiederum versuchen, diesen hohen Anspruch ohne Wenn und Aber durchzusetzen, und scheitern daran, dass die Widerstände dafür zu groß sind. Beide Entwicklungen sind nicht gut, und zwar für die Jugendlichen und ihre psychosoziale Entwicklung nicht wie auch für unsere Gesellschaft, die ja diese Jugendlichen braucht. Grund genug, das einmal in den Mittelpunkt einer Ausschreibung zu rücken.

Zwischen den Stühlen zu sitzen oder zu stehen, ist eine Situation, die wir alle kennen, Sie entsteht im Kleinen wie im Großen. Sie ist oft spannungsgeladen und fordert die Beteiligten heraus, und zwar bis ins Gefühlsleben hinein! Das gilt für uns alle, für Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden aber ganz besonders. Sie fragen und sind gleichzeitig in Frage gestellt, und das nicht nur in der Pubertät, die sowieso alles auf den Prüfstand stellt: Wohin soll mein Weg gehen? Womit muss ich rechnen? Was passiert mit mir und mit meinen Mitmenschen? Was mit meiner Kultur und mit meiner religiösen Tradition? Was geschieht mit mir, wenn ich mich entscheide, was, wenn ich das nicht tue? Kann ich so überhaupt leben? Das gilt je nach dem, zwischen welchen Stühlen sie gerade sitzen. Eigentlich ist solch eine Situation untragbar. Mit womöglich weitreichenden Folgen. Manches haben wir in unserer Hand und können wir konkret beeinflussen, anderes wohl eher nicht. Was aber können wir tun und was tun wir? Warum? Mit welchem Ziel?  Das sind Fragen, die beantwortet werden wollen, und Erzählpunkte, die interessant und wichtig sind.

Laden Sie deshalb Kinder und Jugendliche ein, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen! Laden Sie sie ein, darüber zu schreiben und Geschichten zu erzählen. Ihre Geschichte! Oder was auch immer. Denn das kann ihnen helfen, sich ihrer selbst zu vergewissern und den eigenen Standort zu finden. Sie können Perspektiven formulieren, um möglicherweise auch Wege zu finden, wie es weitergehen kann, wenn sie sich vor einer Mauer wiederfinden oder zwischen ihren Stühlen. In jedem Fall bietet ihnen ein solches literarisierendes Schreiben direkt und indirekt eine Orientierung, wo sie gerade stehen. Und vielleicht – vielleicht – entsteht dabei auch ein richtig gutes Stück Literatur!

Worum geht es genau?

Schon die psychosoziale Entwicklung, die Jugendliche auf dem Weg ins Erwachsenwerden durchlaufen, ist etwas, was sie verunsichert.  Inzwischen gibt es aber noch eine Reihe von weiteren Faktoren, die ihnen zu schaffen machen. Sie wirken von außen auf sie ein und bringen sie ins Schwimmen. Da ist die noch immer nicht ausgestandene Corona-Pandemie mit ihren Spätfolgen, die noch immer nicht ausreichend aufgearbeitet ist. Dann sind es die schweren Naturkatastrophen, z. B. die Erdbeben 2022 in Afghanistan, 2023 der Türkei und Syrien, die viele von ihnen betroffen machen, deren Familien aus diesen Regionen stammen. Oder die Überschwemmung 2023 im Ahrtal, die zeigte, dass wir in Deutschland von diesen Wetterunbilden nicht verschont bleiben.  

Auch den Ukraine-Krieg nehmen viele Jugendliche als Bedrohung wahr. Sie spüren nur allzu gut, dass der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin unberechenbar ist. Die meisten von ihnen kennen ukrainische Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Sie wissen, was dort passiert, was es bedeutet, dass dort Krieg herrscht. Diese Verunsicherung hat der im Oktober 2023 nach dem Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung ausgebrochene Nahostkrieg noch einmal verstärkt. Ein neuer weltweiter Krieg droht, wenn die Verantwortlichen nicht aufpassen.

Nicht zu unterschätzen in seiner Wirkung auf Jugendliche ist der Rechtsruck in Deutschland, in Europa. Immer wieder gibt es Anschläge mit Toten und Verletzten. Und nicht zuletzt das Treffen von Rechtsextremisten und AFD-Leuten im vergangenen Jahr in Potsdam macht vielen von ihnen zu schaffen, bei dem offen über eine sogenannte „Remigration“ von Menschen nachgedacht wurde, deren Familien nach Deutschland eingewandert sind.  Die meisten Jugendlichen sind inzwischen in Deutschland verwurzelt, sie fühlen sich hier zuhause. Das sagen viele von ihnen immer wieder. Und solche Überlegungen ziehen ihnen den Boden unter den Füßen weg. Immerhin könnte es sein, dass die sogenannte „Alternative für Deutschland“ in einigen Bundesländern bald schon den Ministerpräsidenten stellt.

Sorgen machen sich viele Jugendliche aber genauso wegen der überbordenden Umweltverschmutzung und des Klimawandels, den sie hautnah spüren und dem sie nicht ausweichen können. Auch in Deutschland nicht. Und trotzdem haben noch immer viele Menschen nicht verstanden, dass unsere Welt an einem Kipppunkt steht, an einem point of no return. Das ist, alles zusammengenommen, ziemlich viel. Eine Krise jagt die nächste; man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Das macht kopflos. Die Jugendlichen spüren es bis in ihre Familien hinein, in den Schulen, in ihrem Freundeskreis.

Aber auch unabhängig davon können in ihrem persönlichen Umfeld Situation entstehen, bei denen sie auf einmal zwischen den Stühlen sitzen. Das geschieht vor allem dann, wenn Familiäres, Schulisches und das, was freundschaftliche Kontakte betrifft, ineinandergreift und sich gegenseitig den Raum wegnimmt. Wenn zum Beispiel schulische Belange das Familienleben beeinträchtigen und umgekehrt, Es muss ja nicht gleich die Scheidungssituation im Elternhaus sein, die sie kirre macht. Es gibt viele Anlässe. Und immer wieder kann dieses Zwischen-den-Stühlen-sitzen auch zu einer konkreten existentiellen Bedrohung werden, nämlich dann, wenn sich keine tragfähige Lösung findet, die die Situation eben doch auflöst. Dann nämlich, so ist zu befürchten, führt diese Ausweglosigkeit letztlich zur Identitätsdiffusion mit all dem, was an Folgen daraus resultiert. Und so bewegen sich die Jugendlichen zwischen ihren Kulturen, Religionen, Bedürfnissen und Notwendigkeiten hin und her, die im Revier ganz besonders.

Bei uns im Ruhrgebiet

Gerade bei uns im Ruhrgebiet ist die Frage nach unserer Situation zwischen den Stühlen noch einmal von besonderer Bedeutung. Viele Menschen sind im Laufe der letzten einhundertfünfzig Jahre ins Revier eingewandert, um hier bei Kohle und Stahl ihr Auskommen, ihre Zukunft zu finden. Dann wurde die Bergbauförderung schrittweise aufgegeben und viele wurden arbeitslos. Der Strukturwandel nahm seinen Lauf. Andere kamen, weil sie woanders verfolgt wurden und bei uns Sicherheit für sich und ihre Familien suchten. Dass Rechtsradikale bis hin zur Alternative für Deutschland AFD darüber Tagungen abhalten, wie Menschen wieder in ihre Ursprungsländer zurückgebracht werden können, obwohl viele von ihnen bereits in der dritten und vierten Generation in Deutschland leben, schlug bei vielen von ihnen ein wie eine Bombe. Es verunsichert massiv. Die Frage nach dem, wie es vor diesem Hintergrund weitergeht, ist insofern eine Existenzfrage des Ruhrgebiets, und zwar mit allen dazugehörenden Schwierigkeiten und Konflikten. Sie ist der Grund, warum so viele Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen bei uns zusammenleben, ja, auch zusammenleben können. Und das gilt nach dem Ende des Bergbaus in unserer Region auch weiterhin.

Die Jugendlichen, die bei uns zuhause sind, sind mit diesen Schwierigkeiten und Konflikten groß geworden. Sie erleben sie, sie erleiden sie, genießen aber auch das, was sich positiv aus dem Zusammenleben so unterschiedlicher Kulturen und Religionen entwickelt. Sie haben an all dem Anteil. Insofern dürfte das, was sie dazu zu sagen haben, besonders interessant sein in unserer global zugespitzten Situation. Wie gehen sie mit den existentiellen Bedrohungen um? Wie bewältigen sie ihren Alltag? Welche Richtung schlagen sie ein? Und: Welche Ideen und Vorstellungen entwickeln sie? Welche Hoffnungen haben sie, welche Ängste?

Zu fragen ist auch, was das alles für das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Kulturen bei uns bedeutet! Was lebt bei den Kindern und Jugendlichen weiter? Was nehmen sie mit? Wie wehren sie sich gegen Unzumutbarkeiten? Welche Perspektiven eröffnen sich gerade jungen Menschen hier im Revier? Nehmen sie ihr Schicksal zwischen ihren Stühlen in die eigene Hand? Vieles davon wird sich sicherlich in den literarisierenden oder auch literarischen Texten, spiegeln, die die Jugendlichen schreiben. Der Schmelztiegel Ruhrgebiet steht da für sich. Das aber sind nur einige Ansätze, auch anderes ist denkbar. Im Mittelpunkt sollte auf jeden Fall das stehen, was den Jungautorinnen und -autoren auf dem Herzen liegt.

Mögliche didaktische Leitfragen

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Kinder und Jugendliche die Geschichte finden, die sie erzählen wollen oder sollen.  Dafür bieten sich verschiedene Ansatzpunkte an. Da ist zunächst einmal die Alltagserfahrung der Jugendlichen, das, was sie tagtäglich erleben, womit sie sich auseinandersetzen. Das kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, welche Perspektive sie einnehmen. Die einen engagieren sich vielleicht in einem Verein oder ihrem Jugendclub, die anderen in ihrer Kirchen- oder Moscheegemeinde oder ihrer Synagoge. Wieder andere leben, aus welchem Grund auch immer, in prekären Verhältnissen und müssen jeden Tag um ihren ganz konkreten Weg in den Tag kämpfen. Die nächsten haben vielleicht mit ihren Familien Fluchterfahrungen sammeln müssen, sind traumatisiert und müssen sich zwischen dem Alltagsrassismus bei uns und dem aufkeimenden Nationalismus tagtäglich zurechtfinden. Und dann gibt es noch welche, die durch alle gesellschaftlichen Maschen fallen und alleine dastehen, ohne zu wissen, wie es für sie in ihrer Situation vorwärtsgeht.

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen und kulturellen Tradition, mit dem, was sie mitbringen, teilen und was sie in der eigenen Familie leben. Was hat Bestand, weil es einen hält und in die Zukunft trägt? Was muss abgestreift und beiseitegelegt werden, weil es zum Ballast, zum Hemmschuh geworden ist? Trägt die Antwort, die die eigene Religion auf die Lebensfragen gibt, oder nicht? Was bewährt sich im Alltag und hält einen fest? Oder steht man an einem Punkt, bei dem es keinen Ausweg mehr gibt? Das betrifft das eigene Selbst, aber auch unsere gesellschaftlichen, ja auch weltweiten Zukunftsfragen, die auf ihre Beantwortung warten. Es geht um den Punkt, den eigenen, an dem man steht!  Denkbar ist vieles.

Helfen können bei der Suche nach dem, was man erzählen möchte, aber auch einige Leitfragen:

  1. Schreibe möglichst viele Worte und Redewendungen auf, in denen das Wort „Stuhl“ vorkommt!
  2. Suche dir ein oder zwei Worte oder Redewendungen davon aus, die dir besonders sympathisch oder unsympathisch sind (es können nach Wahl auch solche sein, mit denen du etwas Besonderes erlebt hast oder die dir auf andere Weise wichtig geworden sind)!
  3. Notiere dir dazu, warum das so ist und was du mit ihnen verbindest!
  4. Schreibe dazu einen Text/eine Geschichte/ein Gedicht!

Gerade Jüngeren könnte ein solches Vorgehen eine Brücke bauen. Natürlich steht es jeder/jedem Jugendlichen frei, sich diesem Thema so zu nähern, wie sie/er es gerne möchte. Gleichwohl dürften manchmal Tipps sinnvoll sein, um ihnen Wege zu zeigen, wie sie diese Thematik angehen können. Und manchmal geht es ja vielleicht auch darum, Schreibblockaden aufzulösen und Schreibwege zu finden, die aus einer Sackgasse herausführen. Für die meisten ist ja ein solches Schreiben noch eher ungewohnt:

  1. Kreativität lässt sich freisetzen, wenn eine Geschichte aus einer ungewöhnlichen Perspektive heraus erzählt wird, etwa aus der Sicht einer anderen beteiligten Person, eines Tieres oder gar eines Gegenstandes, der sich vor Ort befindet.
  2. Manchmal ist es sinnvoll, ein Geschehen in eine andere Zeit zu verlegen, um Zusammenhänge zu verdeutlichen oder Verbindungen aufzuzeigen. So kann eine Geschichte in eine vergangene, aber auch in eine zukünftige Zeit verlagert werden, um ihr neue Erzählräume zu öffnen.
  3. Ein interessanter Verfremdungseffekt entsteht, wenn die Handlung an einen anderen Ort verlegt wird. Vielleicht in eine andere Stadt, in ein anderes Land oder sogar auf den Mond!
  4. Auch aus der Wahl der Gattung heraus lassen sich viele Möglichkeiten der Darstellung entwickeln. Denkbar ist es zum Beispiel, ein bestimmtes Geschehen nicht in die Berichtsform, sondern in ein Märchen oder ein Gedicht zu gießen. Natürlich müssen solche Formen nicht vollständig ausgefüllt werden. Es geht vielmehr darum, dass die Jugendlichen für das, was sie erzählen wollen, die passende Form finden. Ein Märchen oder etwa ein Gedicht ist ja nicht schon deshalb gut, weil es die Form erfüllt. Insofern kann es sinnvoll sein, Zwischenformen zu entwickeln.

Auf diese Weise können schreibend Wegmarkierungen gesetzt werden, Wegweiser und anderes mehr, was weiterhelfen kann. Vieles ist denkbar, und zwar jenseits dessen, was das Filmprogramm im Fernsehen, das Netz oder gar KI bietet. Entscheidend ist für die Aufnahme ins Buch nicht, ob ein Text im Schuldeutsch fehlerfrei geschrieben oder formal perfekt ist, sondern vielmehr, ob er interessant ist und Inhalt, Form und Sprache einander entsprechen. Darauf ist zu achten. Geben Sie den jungen Schreiberinnen und Schreibern die Orientierungshilfen, die sie benötigen, um sie beim Schreiben zu unterstützen. Das ist für uns kein Ausschlusskriterium.

Selbstbestimmtes Schreiben

Das Schreiben ist gerade für Kinder und Jugendliche eine wertvolle Chance. Vieles kann auf den Tisch kommen, je nach dem, was ihnen auf der Seele brennt und was sie intensiv beschäftigt. Immer wieder sind es kleine Erlebnisse, die sie innerlich berühren, manchmal aber auch äußere Widerfahrnisse, denen sie sich stellen müssen. Mal geht es um kleine Beobachtungen, die interessant und mitteilenswert erscheinen; mal sind es Schicksalsschläge, die sie aus der Bahn werfen und von ihnen eine Neuorientierung verlangen. Es sind äußere Vorkommnisse wie innere Prozesse gleichermaßen, denen sie sich stellen müssen, und von ihnen können sie schreiben. Denn das hilft. Das geht Kindern und Jugendlichen genauso wie uns Erwachsenen. Zum einen können sie das Dargestellte, indem sie es aufschreiben, loslassen und besser bewältigen. Zum anderen können sie damit auch Dinge im Wortsinn zur Sprache bringen, die ihnen noch nicht so klar sind. Dann können sie sich auf diesem Weg auch positionieren und einen Standpunkt beziehen, etwa zu einem Vorfall, der sie umtreibt. Sie können sich sogar, indem sie dies tun, in eine bestimmte Tradition stellen und deutlich machen, dass sie sich mit ihr identifizieren oder gerade dies eben auch nicht tun. Und schließlich können sie erzählend auch etwas entwerfen, das vielleicht erst in der Zukunft für sie relevant wird. Das Schreiben unterstützt sie entwicklungspsychologisch auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden; es hilft ihnen, ihren persönlichen Lebensentwurf zu finden und vorwärtszukommen.

Das Schreiben ist dabei nicht, wie vielleicht wie im Schulunterricht, Mittel zum Zweck, sondern gewinnt seinen Wert aus sich heraus. Jeder Einzelne soll zu Wort kommen, ja, zum Wort in dem, was ihm wichtig ist und worüber er sich äußern möchte. Vielleicht sogar jenseits aller Narrative und Konventionen, die uns prägen und womöglich unser Eigenes zu verschütten drohen! Selbstbestimmtes Schreiben ist gefragt, eines, das nicht gleich von außen gesetzte Erzähl- und Schreibnormen einfordert, sondern die innere Konsistenz eines Vorgangs in den Mittelpunkt rückt und diesen unterstützt. Das kann (auto-) biografisch sein, muss es aber nicht. Denkbar ist genauso gut ein fiktives Erzählen oder eines, das noch ganz anderen Kriterien folgt, je nach Wunsch des Schreibenden. Natürlich heißt das nicht, dass die Kinder und Jugendlichen alles, was sie in der Schule und sonst wo an Erzähltechniken gelernt haben, beiseitelegen müssen; sie können das Gelernte gerne im intendierten Sinne nutzen. Das versteht sich von selbst. Es geht darum, dass sie wirklich zu Wort kommen. Das ist wichtig.

Selbstverständlich dürfen die Jugendlichen, vor allem die mit Migrationshintergrund, in der Sprache schreiben, in der sie sich zu Hause fühlen. In welcher, das sollte gegebenenfalls mit angegeben werden. Die für den Abdruck in der Anthologie ausgewählten Texte werden, wie im Verlagswesen üblich, Korrektur gelesen und den Jungautorinnen und -autoren noch einmal zur Kontrolle vorgelegt. Wenn Sie Fragen haben, dann melden Sie sich bitte bei uns! Wir beraten Sie gerne.

Die richtige Wahl des Schreib-Ortes und der Schreib-Zeit

Eine besondere Bedeutung hat für diese Art des Schreibens oft der Schreib-Ort, also der Ort, an dem die Jugendlichen das, was sie mitteilen wollen, zu Papier bringen. Achten Sie bitte im Rahmen Ihrer Möglichkeiten darauf, dass die Jungautorinnen und -autoren einen Ort haben, an den sie sich zurückziehen können und an dem sie sich wohlfühlen. Was das für ein Ort ist, kann ja sehr unterschiedlich sein. Bei dem einen ist es das eigene Zimmer, bei dem anderen ein Lieblingsort irgendwo draußen.

Genauso ist es mit der Schreib-Zeit. Der eine braucht die Geräuschkulisse des Tages in der Umgebung, der andere die Stille der Nacht. Schaffen Sie, wenn möglich, die Rahmenbedingungen dazu, egal, ob es um ein Schreiben in der Schule oder in der Freizeit geht!

Ausblick

Und so lädt die neue Essener Anthologie alle Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und zwanzig Jahren, die bei uns im Revier leben, dazu ein, sich mit dem Thema „Zwischen meinen Stühlen“ auseinanderzusetzen und darüber zu schreiben. Was erleben sie bei sich und in ihrem Umfeld? Welche Erfahrungen sammeln sie? Wie gehen sie mit den daraus resultierenden Problemen um? Was zeigt sich beim Blick in den eigenen Spiegel? Vor allem, wenn die verschiedenen Erzähl- und Schreibkulturen, die es im Revier gibt, miteinander in Verbindung treten! Was wird da entstehen? Was die Jugendlichen uns über dieses Thema mitzuteilen haben, ist mit Sicherheit interessant auch über unsere Region hinaus. Vielleicht ist es beispielgebend. Wer weiß! Umso wichtiger ist es, das Ganze mit ihnen gemeinsam anzugehen!

Unsere Bitte

Aus diesem Grunde sprechen wir Sie, verehrte Moderatorinnen und Moderatoren, persönlich an! Geben Sie den Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen, in denen Sie arbeiten und mit denen Sie zu tun haben, Raum, sich mit der Thematik zu befassen! Davon auszugehen ist auf jeden Fall, dass das, was bei jungen Menschen auf erzählerischer Ebene passiert, in vielerlei Hinsicht sein Pendant bei ihnen selbst findet. Und das ist gerade für ihr Lebensalter wichtig. Es ist ein Schritt sprachlicher „Verortung“, der sie den Blick nach vorne richten und Perspektiven entwickeln lässt. Woher komme ich? Was will ich? Was kann ich? Wie kann ich das, was ich will, erreichen? Es sind Fragen, die ihnen Wege eröffnen, sich kritisch und selbstkritisch mit der eigenen Vergangenheit, der eigenen Gegenwart und der eigenen Zukunft zu befassen. Das gilt für alle, egal, wo sie geboren wurden oder woher sie stammen. Und das ist für jeden, der mit jungen Menschen zu tun hat und sich für ihre Belange interessiert, etwas, an dem er eigentlich nicht vorbeigehen kann. Er muss darum wissen, wenn er sie erreichen will.

Impulse für Ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

Dass sich aus dem, was Kinder und Jugendliche sich erdichten und erzählen, wichtige Impulse für die Kinder- und Jugendpolitik sowie die Integrationspolitik ergeben können, liegt auf der Hand. Allen Institutionen, die mit jungen Menschen zu tun haben, wie Schulen, Jugendgruppen, Migrant*innenvereine bis hin zu den politischen Verbänden bietet das Buchprojekt eine Chance zur Standortbestimmung und zur Reflexion über das, was bisher in der Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen erreicht wurde. Das gilt sicherlich auch für Sie und die Institution, für die Sie tätig sind. Oder? Und deshalb bitten wir Sie um Ihr Engagement und Ihre Unterstützung! Lassen Sie also die Kinder und Jugendlichen, mit denen Sie es zu tun haben, Texte schreiben! Entscheidend ist, dass sie auf irgendeine Weise mit dem Thema zu tun haben und interessant sind.

Ihre Aufgabe als Multiplikator

Bitte geben Sie den Kindern und Jugendlichen, mit denen Sie zu tun haben, Raum und Zeit, Texte zum Thema „Zwischen den Stühlen“ zu verfassen! Nutzen Sie Ihre Position als Lehrer/in, Jugendleiter/in, Sozialarbeiter/in, Erzieher/in, Elternteil, usw., ermutigen und beraten Sie sie! Ermuntern Sie sie, in der Sprache zu schreiben, in der sie sich zu Hause fühlen!

Bitte fordern Sie Flyer für die Weitergabe an Ihre Schüler/innen, Kinder und Jugendlichen an, mit denen Sie arbeiten oder zu denen Sie Kontakt haben. Geben Sie diese an sie weiter, laden Sie sie ein und leiten Sie die gesammelten Texte bitte weiter! Bitte wählen Sie diese nicht vorher aus! Schicken Sie uns möglichst alle Texte, die bei Ihnen entstanden sind! Oft genug gibt es auch bei scheinbar Schlechterem einige Beiträge, die trotz mangelnder Sprachrichtigkeit Interessantes aufzeigen!

Was wir wollen

Mit dieser Buchreihe und insbesondere mit diesem neuen Buchprojekt wollen wir gerne

•          Kinder und Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte in der Familie zum freien

Schreiben anregen,

•          ihnen bis in bildungsferne Schichten hinein über das Schreiben neue Perspektiven

eröffnen, wie sie sich mit ihren Vorstellungen und Bedürfnissen in unsere Gesellschaft einbringen können,

•          für sie Leistungsanreize schaffen, indem herausragende „literarische“ Einzelleistungen   

             mit der Aufnahme in die Anthologie belohnt werden,

•          ihnen ein literarisches Podium für eine gelungene Verständigung mit sich selbst und

             anderen bieten,

•          Brücken bauen, wo es notwendig ist,

•          einen Beitrag zur ästhetischen Erziehung leisten,

•          auf literarischer Ebene Impulse für eine intensive Bildungsarbeit setzen.

Am Ende soll ein Buch stehen, in dem die interessantesten Texte veröffentlicht werden, die im Rahmen des Projektes entstanden sind.

Die Chance zur Standortbestimmung

Das Ziel dieser Reihe ist es, einen ganz besonderen Blick auf die Sichtweisen von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Ruhrgebiet zu werfen. Was bewegt sie? Was fühlen sie? Wofür stehen sie? Wohin wollen sie? Es sind Fragen, deren Beantwortung für uns alle wichtig ist. Denn wie sie junge Menschen beantworten, zeigt an, wohin die Reise unserer Gesellschaft geht. Gelingt es, die Kinder und Jugendlichen in unsere Erwachsenenwelt zu integrieren? Werden sie ihren Platz in unserer Gesellschaft finden, egal, ob sie oder ihre Eltern in Deutschland geboren wurden oder nicht?

Fast schon seismographisch zeigen die neunzehn Anthologien, die bisher erschienen sind, auf, was sich bei den Kindern und Jugendlichen im Ruhrgebiet verändert und wo sie Kontinuitäten bewahren. Das geschieht sicherlich nicht mit Hilfe wissenschaftlich-exakter Methoden, wohl aber sehr persönlich und authentisch. Auf diese Weise sind die Essener Anthologien, die Ruhrlesebücher, mit ihren inzwischen etwa zweitausend veröffentlichten Texten geradezu zu einem Schatz der Jugendkultur geworden. Es ist wohl die einzige Buchreihe in der Bundesrepublik Deutschland für diese Altersgruppe, die so lange existiert und wirkt! Das jeweils neue Thema entsteht dabei immer wieder in Auseinandersetzung mit dem, was an Beiträgen für die letzte Anthologie erschrieben worden ist und was sich vor diesem Hintergrund an zentralen Fragen stellt. Genauso ist es auch bei dem neuen Buchprojekt.

Die bisherigen Titel:

„Fremd und doch daheim?!“, Vechta 2005,

„Dann kam ein neuer Morgen“, Vechta 2006,

„Heute ist Zeit für deine Träume“, Vechta 2007,

„Pfade ins Revier – Pfade im Revier“, Vechta 2008,

„Ruhrkulturen. Was ich dir aus meiner Welt erzählen möchte“, Vechta 2009,

„Märchenhaftes zwischen Emscher und Ruhr“, Vechta 2010,

„Zwischen meinen Welten unterwegs“, Vechta 2011,

„Wenn Wasser erzählt“, Vechta 2012,

„Dann öffnete sich mir die Tür“, Vechta 2013,

„Wie die Zeit vergeht“, Vechta 2014,

„Was mir Hoffnung macht“, Vechta 2015,

„Von Grenzen und Grenzverschiebungen“, Vechta 2016,

„WER ich WO bin?!“, Vechta 2017,

„Vom Glück und seinen Launen“, Vechta 2018,

„Ich begann zu erzählen“, Vechta 2019,

„Auf-BRUCH in meine Zukunft“, Vechta 2020,

„Punkt. Kinder und Jugendliche aus dem Revier mischen sich ein“, Vechta 2021,

„Vom Wachsen und Werden“, Vechta 2022,

„Was mich in diesen Zeiten voranbringt“, Visbek 2023.

Von sich selbst erzählen

Wenn sich Kinder und Jugendliche mit dieser Thematik beschäftigen, so berührt das zentrale Fragen ihrer Existenz. Der Schweizer Autor Peter Bichsel sagte schon 1982 in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen: „Wer sich auf das Erzählen einlässt, der (…) tut es, um sein Leben zu leben.“ (P. B., Der Leser. Das Erzählen, Darmstadt und Neuwied 1982). Dieser programmatische Satz könnte auch für das stehen, was die neue Ruhrgebietsanthologie will. Wenn junge Menschen anfangen zu erzählen, dann sind das keine Fingerübungen. Schon gar nicht, wenn es um ihre Belange geht. Denn in ihren Texten setzen sie sich mit ihren Erfahrungen auseinander und beziehen diese auf ihre Wirklichkeit. Was sie erzählen und wie sie dies tun, spiegelt also viel von dem, was in ihnen vorgeht. Und das ist wichtig, damit sie ihre persönliche Zukunft in unserer Gesellschaft finden. Wie verarbeiten sie das, was sie erlebt haben? Wie beschreiben sie, was gewesen ist? Welche Worte finden sie für die Fakten, welche für das, was es zu gestalten gilt? Welche Erkenntnisse führen sie weiter? Gehen sie auf eine Fantasiereise oder bleiben sie im Hier und Jetzt stecken? Welche (literarische) Formkraft entwickeln sie, um das darzustellen, was sie darstellen wollen?

Schluss

Natürlich können wir Ihnen an dieser Stelle nur Hinweise geben, wie Sie mit den angehenden Jungautorinnen und -autoren schreibend vorwärtskommen. Melden Sie sich bitte, wenn Sie Fragen haben! Es geht um die Kinder und Jugendlichen. Sie sollen vorwärtskommen.

Wichtige Hinweise

1 bis 3 Texte pro Person (jeweils max. 3 Din A4-Seiten).

Die Ausschreibungsfrist endet am 1. August 2024.

Die Adresse (zur Abgabe der Texte)

Kulturzentrum Grend

z. Hd. Artur Nickel

Stichwort „Jugendanthologie“

Westfalenstraße 311

45276 Essen

Absender (Telefonnummer, E-Mail-Anschrift und Alter nicht vergessen!)

Die Jugendlichen, deren Texte aufgenommen werden, werden schriftlich informiert. Wer an dem Projekt teilnimmt, erklärt sich damit einverstanden, dass sein Beitrag in dem Buch und in Verbindung damit gegebenenfalls auch in anderen Medien veröffentlicht wird. Eingesandte Texte können leider nicht zurückgeschickt werden, der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Weitere Infos

www.arturnickel.de www.geestverlag.de www.grend.de

Im November 2024 soll die Anthologie erscheinen und in der Volkshochschule Essen mit einer öffentlichen Lesung präsentiert werden. Das geben wir rechtzeitig bekannt. Danach kann es weitere Lesungen und Veranstaltungen im Ruhrgebiet geben, um das Buch zu präsentieren und die in den Texten angesprochenen Themen in Schulen und anderen Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, zu diskutieren. Natürlich können Sie, so Sie dies wollen, mit dem Buch/den Büchern auch eigene Präsentationsformate in Ihrem Umfeld mit „Ihren“ Kindern und Jugendlichen entwickeln. Es gibt da bereits einige Vorbilder. Wenn Sie an all dem Interesse haben, Anregungen haben oder uns unterstützen möchten, wenden Sie sich bitte an uns! Das Gleiche gilt, wenn Sie andere Fragen zu dem Buchprojekt haben.

Wir sind gespannt auf die Texte und verbleiben

mit herzlichen Grüßen

Dr. Artur Nickel (Herausgeber)

Gemma Russo-Bierke (Geschäftsführerin Kulturzentrum Grend)

Alfred Büngen (Verleger Geest-Verlag)

Kontaktdaten:

Dr. Artur Nickel, 44869 Bochum, Am Stenshof 117, Tel.: 0173-2625830, Mail: arturnickel@web.de, www.arturnickel.de

Gemma Russo-Bierke, Kulturzentrum Grend, Westfalenstraße 311, 45276 Essen, Tel.: 0201-85132, www.grend.de

Alfred Büngen (Verleger), Geest-Verlag, Marienburger Straße 10, 49429 Visbek, Tel.: 04445 – 3895913, info@geestverlag.de, www.geestverlag.de